Wer hat das Recht sich und sein Tourette zu bedauern und wer muss nach außen so tun als sei alles in Ordnung? – Was? Ihr findet die Frage komisch… Ich zuerst auch, aber dann habe ich einmal näher darüber nachgedacht. Überlegt doch mal, welche Berichte laufen im Fernsehen (wenn überhaupt mal Tourette ein Thema ist)? Es sind die, von schwerstbetroffenen mit einem ganz schlimmen Schicksal. Natürlich ist es auch wichtig diese Seite zu zeigen. Aber mal ehrlich, wie viele schwerstbetroffene Touretter gibt es in Deutschland? Es sind die wenigsten, die meisten Touretter gehen in die Schule oder zur Arbeit. Sie leben ein relativ normales Leben, vielleicht mit ein paar Schwierigkeiten mehr als andere, aber es geht. Und irgendwie muss es ja auch.
Ich bin, wie ihr vielleicht wisst, noch nicht lang
in dieser Tourette-Welt. Aber seit einem Jahr, würde ich sagen, habe ich mich
auf Tourettun eingelebt und eingegliedert. Anfangs noch mit einem erträglichen
Maß an Tics. Damals dachte ich, mir steht es nicht zu, vor anderen Tourettern
zu ‘jammern‘. Immer wieder las ich, wie viele Probleme andere mit ihrem
Tourette haben. Doch nach und nach stiegen meine Tics an. Oft war ich richtig
schlecht drauf, wenn es gerade wieder eine Tic-Steigerung gab. Oft dachte ich
in diesen Tagen daran, jemanden der mich versteht, von meiner Situation zu
erzählen. Mich einfach mal auszuheulen. Doch dann habe ich wieder von den
schlimmen Geschichten gelesen und
gedacht, dass es doch nicht so schlimm ist. Meist habe ich mich nach ein
paar Tagen an die neue Situation gewöhnt. Und da ich sowieso nicht der
emotionalste aber ein stets positiver Mensch bin, habe ich das immer ganz gut
weggesteckt. Wieder eine Zeit später, kamen die ersten Kontakte zu Tourettern
und deren Familien. Erst schriftlich und dann auch bei Treffen. Nie habe ich an
den Erzählungen aus Texten gezweifelt. Alles habe ich mit meinen Augen gesehen
und es geglaubt. Aber immer mal wieder habe ich festgestellt, dass mich mein
vorgestelltes Bild getäuscht hat. In echt hat sich das Tourette-Syndrom hin und
wieder anders gezeigt. Heißt das dann die Leute haben einen angelogen, sie sind
Jammerlappen, oder dramatisieren alles? NEIN, das würde ich nicht sagen. Man
wächst mit seinen Aufgaben. Jede Tic-Steigerung war für mich schwer, physisch
und psychisch. Also ist es doch keine Lüge, wenn jemand mit wenigen Tics
darüber klagt, dass es nun etwas mehr Tics sind. Es ist auch keine Lüge, wenn
Eltern von betroffenen Kindern, denken ihr Kind hat es ganz schlimm erwischt.
Jede Mutter und jeder Vater haben das Recht überfordert und verzweifelt zu
reagieren. Nur wie lang? 1 Tag, eine Woche, ein Monat, ein ganzes Leben… Wie
lang kann man sein Schicksal bedauern und wann sollte man nach vorn schauen?
Darauf kann ich keine pauschale Antwort geben. Ich für meinen Teil, habe die
Entscheidung getroffen, dass mir Mitleid nichts bringt, davon geht es mir nicht
besser, helfen kann mir niemand und ändern kann es auch keiner. Aber ich kann
mir (inzwischen) auch mal ein paar schlechte Tage erlauben. Früher habe ich
immer versucht nach außen alles super aussehen zulassen, mich niemals schwach
zu zeigen. Wer glaubt einem aber, dass immer alles super ist? Niemand, der
einen wirklich kennt. Nach den paar
Tagen muss dann aber auch wieder gut sein. Dann heißt es Kopf hoch, Krone
richten und weiter!
Ganz schwer zu verstehen war es für mich immer,
wenn jemand ohne Tics zu mir sagte: „Ich könnte, das nicht so wie du…“ Meine
Frage war dann immer, wie kann jemand, der sich das alles nicht vorstellen
kann, sagen, dass er/sie das nicht könnte? Vor 2-3 Jahren hätte ich auch nicht
gedacht, dass ich das so kann. Aber so ein Leben war nicht meine Wahl und
manchmal muss man einfach das Beste aus den Gegebenheiten machen. Die
Vergangenheit sollte man dann ruhen lassen. Und an die Zukunft am besten nicht
denken. Das Problem mit der Zukunft erlebe ich immer wieder bei Eltern von
betroffenen Kindern. Die möchten gern eine Prognose oder am besten noch eine
genaue Verlaufsbeschreibung. Besonders, wenn das Kind erst weniger ticte und
jetzt stärker tict, machen sich Eltern Sorgen. Absolut verständlich, dass
Eltern diese Gedanken hegen, wenn es nicht so wäre würde ich mir mehr Gedanken
machen. Tourette ist aber unberechenbar. Es kann sein, dass es immer mild
bleibt. Es kann sein, dass es nach einer anstrengenden Pubertät weniger wird. Es
kann… Aber es kann auch so laufen, wie bei mir. Ich war 17 Jahre als die Tics
wirklich anfingen, also überhaupt nicht in der Prognose. Daher kann ich den
Gedanken an „Wie wird es wohl werden?“ verstehen, aber ich würde sagen, außer
mehr Sorgen bringt einem so ein Denken nichts.
Um abschließend noch einmal meine anfängliche
Frage zu beantworten. Wer hat das Recht sich und sein Tourette zu bedauern und
wer muss nach außen so tun als sei alles in Ordnung? Alle haben das Recht. Es
kommt nicht drauf an, was einen belastet. Nur irgendwann sollte es wieder in
die andere Richtung gehen. Das passiert aber nicht von allein. Um positiv zu
denken, bedarf es eines Einstellungswechsel. Und der muss von der Person selbst
kommen. Aber wir, Bekannte/Angehörige/Freunde können auch unseren Teil dazu beitragen.
Anstatt diese Person mit unserem Mitgefühl und Mitleid zu überschütten und
wohlmöglich noch zustimmen. Sollten wir dieser Person auch wieder die Sonne
hinter den Wolken zeigen. Zur Zeit gibt es in Deutschland einen kleinen
Tourette-Aufschwung. Einige neue Gruppen entstehen und die jüngere Generation
wird aktiver. Wie wichtig das ist sieht man gut an den Berichten, die es nach
solchen Treffen gibt. Schaut allein in diesen Blog. Von jedem Treffen könnte
ich ein ganzes Buch schreiben. Und wenn eine Kamera mitlaufen würde, könnten
Ärzte und Studenten, noch Jahre davon lernen. Diesen Aufschwung sollte man
verbreiten, es sollte Fernsehberichte auch von Tourettern geben, die ihr Leben
leben. Es gibt doch diese Aussage : Ich habe Tourette, aber Tourette hat nicht
mich. Wir alle zusammen Touretter,
Angehörige, Freunde und Leute die nur mal davon gehört haben, können dieses
Bild von Tourette verbreiten. Touretter sind keine von einem Dämon bessesenen
Verrückten. Es sind Menschen, wie jeder andere auch, sie ticen eben nur ein
bisschen anders.
LifeTiccer
Ich finde diesen Beitrag super klasse!
AntwortenLöschenMein Freund hat das Tourette-Syndrom seit 9Jahren und kämpft total dagegen an. Er akzeptiert die Krankheit nicht und das macht den Umgang super schwer. Ich bin erst frisch ihm zusammen und liebe diesen Mann! Gerne würde ich ihm diesen Beitrag weiterleiten, aber er scheint mir weniger empfänglich dafür zu sein. Er will auch nicht im geringsten an sich arbeiten. Er schiebt gerne seine Krankheiten vor und verkriecht sich dahinter, will aber auf der anderesn Seite kein Mitleid. Es ist für mich super schwer, da er sich das Leben dadurch schwer macht.
Hallo und danke für dein Feedback.
AntwortenLöschenIch kann dich gut verstehen. Es ist wahrscheinlich sehr schwer Tourette von außen zu betrachten. Auf der anderen Seite kann ich auch deinen Freund gut verstehen, Solange man eine Erkrankung nicht beachtet, ist sie auch nicht da. Da wieder rum finde ich es schwierig, die Erkrankung als Ausrede zu verwenden.
Ich wünsche euch viel Kraft und eventuell auch den Mut sich mit dem tourette auseinander zusetzen.
Alles Liebe
LifeTiccer
Sibling, Tour Rette lieber mal deine Welt, jetzt bin ich genesen. Das stimmt aber was LifeTiccer schreibt, das ist ausnahmweise mal keine Stigmatisierung!
AntwortenLöschenToi Toi Toi
kleiner Tip am Rande, lasst euch bloß nichts einreden wenn ihr noch nicht lange Tourette Syndrom habt.
Gute Heilung und Genesung
Echo, Kopro