Montag, 19. Januar 2015

Wer hat das Recht sich und sein Tourette zu bedauern und wer muss nach außen so tun als sei alles in Ordnung?


Wer hat das Recht sich und sein Tourette zu bedauern und wer muss nach außen so tun als sei alles in Ordnung? – Was? Ihr findet die Frage komisch… Ich zuerst auch, aber dann habe ich einmal näher darüber nachgedacht. Überlegt doch mal, welche Berichte laufen im Fernsehen (wenn überhaupt mal Tourette ein Thema ist)? Es sind die, von schwerstbetroffenen mit einem ganz schlimmen Schicksal. Natürlich ist es auch wichtig diese Seite zu zeigen. Aber mal ehrlich, wie viele schwerstbetroffene Touretter gibt es in Deutschland? Es sind die wenigsten, die meisten Touretter gehen in die Schule oder zur Arbeit. Sie leben ein relativ normales Leben, vielleicht mit ein paar Schwierigkeiten mehr als andere, aber es geht. Und irgendwie muss es ja auch.
Ich bin, wie ihr vielleicht wisst, noch nicht lang in dieser Tourette-Welt. Aber seit einem Jahr, würde ich sagen, habe ich mich auf Tourettun eingelebt und eingegliedert. Anfangs noch mit einem erträglichen Maß an Tics. Damals dachte ich, mir steht es nicht zu, vor anderen Tourettern zu ‘jammern‘. Immer wieder las ich, wie viele Probleme andere mit ihrem Tourette haben. Doch nach und nach stiegen meine Tics an. Oft war ich richtig schlecht drauf, wenn es gerade wieder eine Tic-Steigerung gab. Oft dachte ich in diesen Tagen daran, jemanden der mich versteht, von meiner Situation zu erzählen. Mich einfach mal auszuheulen. Doch dann habe ich wieder von den schlimmen Geschichten gelesen und  gedacht, dass es doch nicht so schlimm ist. Meist habe ich mich nach ein paar Tagen an die neue Situation gewöhnt. Und da ich sowieso nicht der emotionalste aber ein stets positiver Mensch bin, habe ich das immer ganz gut weggesteckt. Wieder eine Zeit später, kamen die ersten Kontakte zu Tourettern und deren Familien. Erst schriftlich und dann auch bei Treffen. Nie habe ich an den Erzählungen aus Texten gezweifelt. Alles habe ich mit meinen Augen gesehen und es geglaubt. Aber immer mal wieder habe ich festgestellt, dass mich mein vorgestelltes Bild getäuscht hat. In echt hat sich das Tourette-Syndrom hin und wieder anders gezeigt. Heißt das dann die Leute haben einen angelogen, sie sind Jammerlappen, oder dramatisieren alles? NEIN, das würde ich nicht sagen. Man wächst mit seinen Aufgaben. Jede Tic-Steigerung war für mich schwer, physisch und psychisch. Also ist es doch keine Lüge, wenn jemand mit wenigen Tics darüber klagt, dass es nun etwas mehr Tics sind. Es ist auch keine Lüge, wenn Eltern von betroffenen Kindern, denken ihr Kind hat es ganz schlimm erwischt. Jede Mutter und jeder Vater haben das Recht überfordert und verzweifelt zu reagieren. Nur wie lang? 1 Tag, eine Woche, ein Monat, ein ganzes Leben… Wie lang kann man sein Schicksal bedauern und wann sollte man nach vorn schauen? Darauf kann ich keine pauschale Antwort geben. Ich für meinen Teil, habe die Entscheidung getroffen, dass mir Mitleid nichts bringt, davon geht es mir nicht besser, helfen kann mir niemand und ändern kann es auch keiner. Aber ich kann mir (inzwischen) auch mal ein paar schlechte Tage erlauben. Früher habe ich immer versucht nach außen alles super aussehen zulassen, mich niemals schwach zu zeigen. Wer glaubt einem aber, dass immer alles super ist? Niemand, der einen wirklich kennt.  Nach den paar Tagen muss dann aber auch wieder gut sein. Dann heißt es Kopf hoch, Krone richten und weiter!

Ganz schwer zu verstehen war es für mich immer, wenn jemand ohne Tics zu mir sagte: „Ich könnte, das nicht so wie du…“ Meine Frage war dann immer, wie kann jemand, der sich das alles nicht vorstellen kann, sagen, dass er/sie das nicht könnte? Vor 2-3 Jahren hätte ich auch nicht gedacht, dass ich das so kann. Aber so ein Leben war nicht meine Wahl und manchmal muss man einfach das Beste aus den Gegebenheiten machen. Die Vergangenheit sollte man dann ruhen lassen. Und an die Zukunft am besten nicht denken. Das Problem mit der Zukunft erlebe ich immer wieder bei Eltern von betroffenen Kindern. Die möchten gern eine Prognose oder am besten noch eine genaue Verlaufsbeschreibung. Besonders, wenn das Kind erst weniger ticte und jetzt stärker tict, machen sich Eltern Sorgen. Absolut verständlich, dass Eltern diese Gedanken hegen, wenn es nicht so wäre würde ich mir mehr Gedanken machen. Tourette ist aber unberechenbar. Es kann sein, dass es immer mild bleibt. Es kann sein, dass es nach einer anstrengenden Pubertät weniger wird. Es kann… Aber es kann auch so laufen, wie bei mir. Ich war 17 Jahre als die Tics wirklich anfingen, also überhaupt nicht in der Prognose. Daher kann ich den Gedanken an „Wie wird es wohl werden?“ verstehen, aber ich würde sagen, außer mehr Sorgen bringt einem so ein Denken nichts.

Um abschließend noch einmal meine anfängliche Frage zu beantworten. Wer hat das Recht sich und sein Tourette zu bedauern und wer muss nach außen so tun als sei alles in Ordnung? Alle haben das Recht. Es kommt nicht drauf an, was einen belastet. Nur irgendwann sollte es wieder in die andere Richtung gehen. Das passiert aber nicht von allein. Um positiv zu denken, bedarf es eines Einstellungswechsel. Und der muss von der Person selbst kommen. Aber wir, Bekannte/Angehörige/Freunde können auch unseren Teil dazu beitragen. Anstatt diese Person mit unserem Mitgefühl und Mitleid zu überschütten und wohlmöglich noch zustimmen. Sollten wir dieser Person auch wieder die Sonne hinter den Wolken zeigen. Zur Zeit gibt es in Deutschland einen kleinen Tourette-Aufschwung. Einige neue Gruppen entstehen und die jüngere Generation wird aktiver. Wie wichtig das ist sieht man gut an den Berichten, die es nach solchen Treffen gibt. Schaut allein in diesen Blog. Von jedem Treffen könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Und wenn eine Kamera mitlaufen würde, könnten Ärzte und Studenten, noch Jahre davon lernen. Diesen Aufschwung sollte man verbreiten, es sollte Fernsehberichte auch von Tourettern geben, die ihr Leben leben. Es gibt doch diese Aussage : Ich habe Tourette, aber Tourette hat nicht mich.  Wir alle zusammen Touretter, Angehörige, Freunde und Leute die nur mal davon gehört haben, können dieses Bild von Tourette verbreiten. Touretter sind keine von einem Dämon bessesenen Verrückten. Es sind Menschen, wie jeder andere auch, sie ticen eben nur ein bisschen anders.

LifeTiccer


3 Kommentare:

  1. Ich finde diesen Beitrag super klasse!
    Mein Freund hat das Tourette-Syndrom seit 9Jahren und kämpft total dagegen an. Er akzeptiert die Krankheit nicht und das macht den Umgang super schwer. Ich bin erst frisch ihm zusammen und liebe diesen Mann! Gerne würde ich ihm diesen Beitrag weiterleiten, aber er scheint mir weniger empfänglich dafür zu sein. Er will auch nicht im geringsten an sich arbeiten. Er schiebt gerne seine Krankheiten vor und verkriecht sich dahinter, will aber auf der anderesn Seite kein Mitleid. Es ist für mich super schwer, da er sich das Leben dadurch schwer macht.

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  2. Hallo und danke für dein Feedback.
    Ich kann dich gut verstehen. Es ist wahrscheinlich sehr schwer Tourette von außen zu betrachten. Auf der anderen Seite kann ich auch deinen Freund gut verstehen, Solange man eine Erkrankung nicht beachtet, ist sie auch nicht da. Da wieder rum finde ich es schwierig, die Erkrankung als Ausrede zu verwenden.

    Ich wünsche euch viel Kraft und eventuell auch den Mut sich mit dem tourette auseinander zusetzen.

    Alles Liebe

    LifeTiccer

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  3. Sibling, Tour Rette lieber mal deine Welt, jetzt bin ich genesen. Das stimmt aber was LifeTiccer schreibt, das ist ausnahmweise mal keine Stigmatisierung!
    Toi Toi Toi

    kleiner Tip am Rande, lasst euch bloß nichts einreden wenn ihr noch nicht lange Tourette Syndrom habt.

    Gute Heilung und Genesung
    Echo, Kopro

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